VON MAGGIA NACH MALOJA
Eine Gratwanderung der queren Sorte: In acht Tagen vom Maggiatal ins Engadin.
Es warten rund 10‘000 Höhenmeter, ein Dutzend Bergseen, viel Auf- und Ab und hier ein langer Text.
So geht der Weg in aller Kürze: vom Dorf Maggia im gleichnamigen Tal hoch in Richtung Rifugio Masnee, weiter ins Verzascatal. Von dort, das war der Plan, hoch in Richtung Rifugio Efra, durchs Val d’Ambra in die Leventina. Dann weiter ostwärts ins Calancatal. Via die Borchetta Trescolmen ins Misox. Ennet der A13 auf steilen Schmugglertritten über den Passo di Balinisco hinunter ins italienische Valle San Giacomo (Isola). Dann wieder hoch nordostwärts auf den Pass da Niemet, bevor neuerlich ein Abstieg – wieder auf Schweizer Boden – durchs Val Niemet im Avers ansteht. Von dort dann tiefer hinten im Tal über den Bergalga-Pass und ins nächste grosse Nord-Südtal, ins Bergell. Links weg in Richtung Norden über den Septimer- und den Lunghin-Pass nach Maloja. Finally.
TAG 1: «6 Std.» steht auf dem Wegweiser bei der Bushaltestelle in Maggia vis-à-vis der Migros und des Coop. Ziel ist das Laghetto di Pianca unterhalb der Masnee-Hütten. Durch erstaunlich feuchte Wälder geht es steil hoch. Der Rucksack mit Essen, Ein-Mann-Zelt, Kocher und Weiterem hängt schwer in der Hüfte. Die Achillessehnen spannen. Die Oberschenkel hieven. Bei der Alpe Deva nach knapp 1000 Höhenmeter ist Schluss für heut. Die Alpe ist verlassen, hat fliessendes Brunnenwasser und einen perfekt hergerichteten flachen Flecken für ein Ein-Mann-Zelt. Der Blick geht über den Locarnese mit den Maggia-, Onsernone- und Centovalli-Tälern. So perfekt es sich anfühlt, so sehr wird es noch getoppt werden von den nächsten Schlafplätzen.
TAG 2: BETTSTATT STATT ZELT
Über die Mosaike von Hochmooren sowohl auf der Maggiatal-Seite als auch jenseits des Übergangs ins Verzascatal, auf Sciarmottà, wandere ich steil hinab nach Brione. Dort gibt es alles, was wanderer braucht: Pizza, Bier, eine Bettstatt in einem B’n’B («Eva») und ein Postauto. Dem langen, steilen Einstieg am Vortag geschuldet, spannt die Achillessehne (zu) heftig.
TAG 3: PLANÄNDERUNG UND POMMES FRITES
Der Plan wird also geändert und die Leventina umfahren. Ich halte so die Regel hoch, dass man aus der Leventina nur hinauswandert; nur im Notfall in sie hinein. Es geht um Wander-Psycho-Hygiene. Mit Poschi und S-Bahn und wieder Poschi fahre ich ins Calancatal mit 63 zusätzlichen Grammen: Voltarensalbe für die gebeutelte Sehne. Gut investiert, wie sich noch weisen wird.
DER WEG IST DIE GRENZE
Gelegenheit macht Pommes frites: Im Calancatal gibt’s als erstes eine Portion, im Ristorante Valbella zu Rossa. Auf Asphalt geht’s von Rossa nach Valbella. Dort dann weiter ins einsame Val Large in Richtung der Borchetta di Trescolmen. Die map.geo.admin.ch-Seite hilft mir dabei, mich mit meinen Biwak-Plänen auf der sicheren, sprich fairen, Seite zu wähnen. Links des Weges ist Sperrgebiet, rechts davon darf man sich bewegen und bleiben. Der Weg ist nicht das Ziel, der Weg ist in diesem Fall die Grenze. Die Grenze zum Jagdbanngebiet «Trescolmen» (und zur ehemals geplanten Kernzone des Nationalparks «Parc Adula»). Die Nacht direkt auf dem Pass, rechts des Weges versteht sich, also südlich, war eine perfekte Zeltnacht. Noch um 19.45h Uhr scheint der letzte Sonnenstrahl von Westen her auf das Zelt, dann Windstille mit sternenklarer und dennoch warmer Nacht bis morgens um 7 Uhr dieselbe Sonne von der entgegengesetzten Seite bereits wärmend weckt.
TAG 4: DIE LEVENTINA-REGEL FÜRS MISOX
Hinunter ins Misox kommt die Leventina-Regel zur Geltung: Auch ins Misox läuft man nur im Notfall. Es lässt sich aber nicht immer vermeiden. Der Verkehr wird mit jedem Schritt lauter, er rückt später sogar ins Blickfeld und ganz unten läuft man sogar über die und entlang der Autobahn A13. Welch demotivierende Schmach! Dementsprechend ist die Wanderung nach Pian San Giacomo eher ein «Weg-Zurücklegen». Natürlich wird auch der Bergbach gefasst und das Wasser abgeleitet. Unten angekommen meldet sich die Achillessehne wieder, sodass der «Stopp auf Verlangen»-Knopf für das Postauto über den San-Bernardino-Pass bereits und schweren Herzens gedrückt ist – gleichbedeutend mit dem Abbruch der ganzen Wanderung. Kurz entschlossen starte ich trotzdem den Versuch weiterzulaufen. Nach einer Portion Pommes frites. Kommt Beiz, kommt Pommes frites. Und siehe da: Der Schmerz ist weg.
Der Aufstieg zum Balinisco-Pass ist ein Sauchäib. Immer steiler schlängelt er sich hinauf. So steil und einsam, dass das Herz hie und da etwas in die Hose rutscht und die Vernunft zur Umkehr rät. Bis die Wandergruppe aus der Romandie entgegenkommt und Entwarnung gibt: Alles, was noch komme an Weg sei mit der gebotenen Sorgfalt problemlos zu bewältigen. Hurra.
Kurz unterhalb des Passo di Balinisco, auf einer kleinen, beweideten Hochebene bereits auf italienischem Grund, stelle ich mein Nachtlager.
TAG 5: «NIEMET UND ESSET ALLE DAVON»
Bereits früh scheint die Sonne dann wieder aufs Zeltdach. Vorbei an mit viel Wollgras bestückten Seen hinab ins Val Febrarro in Richtung Isola. Dort gibt’s Verpflegung, die Splügen-Passtrasse, Alberghi und ein Elektrizitätswerk. Nach einem kurzen Achillessehne-Check (Abbruch mit Poschi über den Splügen-Pass oder weiter via Madesimo?) nahm ich den Bus in Richtung Madesimo – einem Skiort mit allem Nötigen, falls man was braucht. Von dort laufe ich weiter in Richtung Pass da Niemet (2 Std. Anstieg), vorbei am Rifugio Betacchi und am Lago di Emet.
TAG 6: PER GALGEN
Am nächsten Morgen wartete der Abstieg durchs Val Niemet in Richtung Innerferrera. Über die schöne Alp Niemet. Obwohl Innerferrera offenbar zu den reichsten Gemeinden im Kanton Graubünden gehört – dem Wasserzins aus dem Kraftwerk des Lago di Lei sei Dank – gibt es keinen Laden im Dorf. Für Proviant muss man bis nach Cresta reisen. Ich reise mit dem Postauto nach Juppa im Avers. Um 15.15 Uhr laufe ich dort los ins Bergalga-Tal mit wunderschönen Auen und weichen Matten. Ein kleines Alpbeizli lädt zum Laben. Rund zwei Stunden später finde ich meinen Schlafplatz auf einer schönen Anhöhe in fairem Gebiet – Uf da Büela. Die Rinder glöckeln zum Glück in der Ferne.
TAG 7: NOTTE FANTASTICA
Nach einer Nacht mit fantastischem Sternenhimmel und Neumond-Schatten gings früh auf den Bergalga-Pass. Dort gilt es der Karte mehr zu trauen als den Wegmarken (die auffälligsten lenken einen ins Val Roda, wohin ich nicht will). Über viel Geröll und Fels führt der Weg an den austrocknenden Calderaseen vorbei zum Pass da Val da Roda. Dort öffnet sich der Blick ins Val Duan mit seinen zwei Seen. Über eine Geländestufe geht der Weg dann weiter ins Val Maroz mit seiner urtümlichen Felssturz- und Schwemmebenen-Landschaft. Ich steige auf der Fahrstrasse weiter hinab vorbei an Maroz Dent, um dann kurzentschlossen nach links (Norden) wieder aufzusteigen. Es warten dort der Septimer- und der Lunghin-Pass. Kurz unterhalb des Pass Lunghin fand ich mein nächstes Nachtlager.
TAG 8: DIE MUTTER ALLER WASSERSCHEIDEN
Auf dem Lunghin-Pass scheidet sich das Wasser in drei Richtungen, was es sonst nirgends tut in ganz Europa: Ins Mittelmeer (Maira), die Nordsee (Inn) und ins Schwarze Meer (Giulia). Als Geograf verharre ich da schon etwas ehrfürchtig. Vorbei am wunderschönen Lunghin-See mache ich den Schlenker über Grevasalvas anstelle der mit Tagestouristen bevölkerten Direttissima nach Maloja. Es lohnt sich, denn der Blick ins Oberengadin ist atemberaubend. In Maloja kam ich in der der wunderschönen Villa La Rosée unter (B’n’B).
AN- UND ABREISE
ÖV zum Start in Maggia: Bus 315 von Locarno Stazione nach Maggia www.sbb.ch
ÖV ab Maloja: Entweder via St. Moritz-Chur oder Landquart oder etwas länger via Chiavenna und den Splügen-Pass
LANDSCHAFTLICHES HIGHLIGHT
Sciarmottà oben im Verzascatal.
PRAKTISCHES
In jedem Tal gibt es ÖV- und Verpflegungsmöglichkeiten.
Schwierigkeitsgrad: T3
Übernachtung in Maloja in der schönen Villa la Rosée: Stand 2022 unklar, ob noch als B’n’B geöffnet.
Kartenausschnitt: https://s.geo.admin.ch/965d441c66